Deutschland und Wirtschaftskriminalität: Nicht auf der Höhe der Zeit
Autor
Rainer Ohler
Strategy and Communications Consultant, Managing Director, Sieber Advisors, Munich, Germany & 2025 Fellow des Global Ideas Center
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Dieses Strategic Intervention Paper (SIP) ist eine Publikation des Global Ideas Center in Berlin. Wenn Sie diesen Text nutzen, zitieren Sie bitte sowohl den Namen des Autors und beziehen Sie sich dabei auf das neue Strategic Intervention Paper (SIP), das vom Global Ideas Center in Berlin auf The Globalist veröffentlicht wurde.
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Der Global Ideas Center (GIC) ist eine gemeinnützige, unabhängige und virtuell operierende Denkfabrik. Kern des GIC ist neben unserem Redaktionsteam ein weltweites Netzwerk von Praktikern und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Gemeinsam sind wir bestrebt, neue Einsichten und Perspektiven zu wichtigen nationalen und internationalen Themen in einer lösungs- und reformorientierten Weise zu präsentieren.
Die Mission unseres Global Ideas Center ist, als Katalysator für die Lösung realer existierender Probleme zu dienen. Dabei steht für uns vorrangig die Dimension des grenzüberschreitenden Lernens im Vordergrund unserer Analysen.
Wir sind überzeugt, dass Länder und Gesellschaften oftmals mit sehr ähnlich gelagerten politischen Herausforderungen konfrontiert sind, bei denen „The Power of Comparisons“ wesentlich zur Problemlösung beitragen kann.
Dabei geht es uns vorrangig darum, dass wir uns reformorientiert mit mächtigen Interessen und allzu gängig gewordenen Meinungen auseinandersetzen, um unsere Demokratien durch eine offene und ehrliche, ebenso fundierte wie ergebnisorientierte Debatte zu stärken.
- Deutschland sollte Wirtschaftskriminalität effizienter bekämpfen — und dabei europäischer vorgehen
- Ein Blick auf Frankreich zeigt, wie das gehen könnte
Vor genau fünf Jahren begann am 30. September 2020 in München der große Diesel-Strafprozess gegen Audi-Chef Stadler und Kollegen. Pikanterweise ist das Verfahren noch immer nicht beendet.
Wenn man vor diesem Hintergrund die großen Unternehmensskandale der letzten 20 Jahre in Deutschland betrachtet, dann fallen vier Dinge auf: Erst gibt es große Schlagzeilen, dann folgt scharfe Kritik an den Verantwortlichen, die den Unternehmen und ihren Marken in der Tat schweren Reputationsschaden zufügt. Danach beginnen endlose Gerichtsverfahren und am Ende stehen Urteile, die angesichts der ursprünglichen Schlagzeilen nur als enttäuschend zu bezeichnen sind — wenn Urteile überhaupt gefällt werden.
Sechs Gründe, warum Wirtschaftskriminalität ein Topthema in Deutschland sein muss
Ob Dieselgate, Cum-Ex oder Wirecard, in Deutschland machen Wirtschafts- und Finanzskandale immer wieder Schlagzeilen, doch die juristische Aufarbeitung bleibt zäh. Urteile, wenn sie in Deutschland überhaupt ergehen, sind oft unbefriedigend. Insgesamt leidet unser Land an langwierigen Verfahren, geringen Sanktionen und einem Flickenteppich an Zuständigkeiten.
Diese Faktenlage ist Anlass, eine sehr ernste Frage über den gemächlichen deutschen Umgang mit der Wirtschaftskriminalität zu stellen: Sollten wir nicht endlich das positive Beispiel Frankreichs, aber auch Großbritanniens, aufgreifen und konsequenter und effektiver gegen Unternehmensdelikte vorgehen?
Das würde nicht nur zu mehr Effizienz und Transparenz führen, sondern vor allem auch – wie das Beispiel der anderen Länder belegt – zu begrüßenswerten Verhaltensänderungen im Unternehmenssektor. Damit würde mit Blick nach vorn auch die Anzahl der Fälle reduziert, in denen eine Strafverfolgung vonnöten ist.
Das Hauptproblem in Deutschland ist weniger die mangelnde Bereitschaft zur Aufklärung als ein veralteter rechtlicher Rahmen. Deutschland besitzt kein Unternehmensstrafrecht. Dadurch ziehen sich Verfahren über Jahre hin – und Sanktionen bleiben meist weit hinter dem internationalen Standard zurück. Es fehlt an dreierlei – systematischem Vorgehen, Tempo und abschreckender Wirkung.
Dieses Thema sollte auch für Friedrich Merz ein wichtiger Agendapunkt sein. Er betont regelmäßig zurecht, wie wichtig es ist, dass sich Deutschland stärker mit der europäischen Dimension auseinandersetzt. Dafür bietet sich das grenzüberschreitende, reformorientierte Lernen beim Thema Wirtschaftskriminalität sehr gut an.
Die Chance, die erforderlichen Reformen jetzt voranzutreiben, ergibt sich nicht nur aus der Wirtschaftskompetenz des Kanzlers, sondern auch weil sein Koalitionspartner SPD bereit sein sollte, dieses Thema aufzugreifen.
Inhaltsübersicht:
Beispiel 1: Der Audi-Skandal
Im Juni 2023 endete ein dreijähriger Strafprozess in München wegen des Diesel-Abgasskandals gegen den ehemaligen Audi-Chef Rupert Stadler mit einem „Deal.” Ob dieser Deal Bestand hat, wird sich zeigen, wenn das Verfahren endgültig abgeschlossen ist.
Die Prozessbeteiligten waren offenbar der Meinung, dass sich die Aussichten auf eine Verurteilung in einem weiteren Verfahren nicht verbessern würden und der Erfolg ungewiss und riskant wäre.
Die Staatsanwaltschaft kam zu dem Schluss, dass es besser sei, den Fall schnell zu beenden, als noch mehr Zeit zu investieren und einen Totalverlust zu riskieren.
Rupert Stadler und Co. sind nun zwar vorbestraft, doch in vielen öffentlichen Reaktionen waren Enttäuschung und Gerede über einen weiteren „Pyrrhussieg“ zu hören.
Es ist richtig, dass ein hartes Urteil in Fällen von Wirtschaftskriminalität in der Regel schwer zu erreichen ist. Aber nach den gigantischen Anstrengungen, die Wahrheit aufzudecken, und acht vergangenen Jahren seit Beginn des Skandals erscheint der Vergleich des Gerichts bestenfalls als halber Erfolg für die Justiz.
Beispiel 2: Der Volkswagen-Skandal
Im Jahr 2018, nur drei Jahre nach dem Bekanntwerden des weitreichenden Dieselbetrugsskandals deutscher Automobilhersteller, gelang es dem deutschen Staat, eine (im deutschen Kontext) erhebliche Sanktion gegen den Volkswagen-Konzern zu verhängen, zu dem auch Audi gehört.
Obwohl es in Deutschland kein Unternehmensstrafrecht als solches gibt, musste VW damals eine Geldstrafe von 5 Millionen Euro und eine Gewinnabschöpfung von 995 Millionen Euro akzeptieren, die gemäß dem deutschen Ordnungswidrigkeiten-Gesetz (OWiG) verhängt wurden.
In den Vereinigten Staaten hingegen scheint VW — das eine klare Aufschlüsselung der Zahlen vermeidet – allein an die Behörden mehrere Milliarden Dollar gezahlt zu haben. Einige spekulieren, es handele sich um etwa fünf Milliarden US-Dollar. Hinzukommen weltweit etwa 27 Milliarden Dollar an Strafen, Entschädigungen für Autobesitzer usw. Die Diskrepanz zwischen Deutschland und den USA ist frappierend.
Drei wichtige Fragen für Deutschland
Erstens: Warum ist Deutschland im internationalen Vergleich eher schwach bei der Aufdeckung von Wirtschaftskriminalität und der Verhängung von Strafen?
Zweitens: Warum kann die Justiz — trotz enormer Anstrengungen — Unternehmensdelikte allzu oft nur mit Ergebnissen abschließen, die einem „Pyrrhussieg“ gleichen?
Drittens: Fehlt Deutschland etwas, was andere haben? Kurz gesagt: Ist es nicht an der Zeit für ein deutsches Unternehmensstrafrecht mit international standardisierten Verfahren, das derzeit nicht existiert?
US-Behörden als größter Angstfaktor
Wenn internationale Unternehmen unter Beschuss geraten und Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen werden, fürchten sie vor allem die Strafverfolgungsbehörden in den Vereinigten Staaten — insbesondere das Justizministerium (DOJ).
Denn das US-Recht beansprucht bei Straftaten internationaler Unternehmen weltweite Gerichtsbarkeit. Die US-Behörden können zudem als Sanktionen potenziell ruinöse Zugangsbeschränkungen zum US-Markt verhängen.
Die britische Justiz gilt als kleiner Bruder der US-Justiz. Ihre wichtigste Behörde in diesem Bereich, das Serious Fraud Office (SFO), hat zahlreiche große Fälle gegen Unternehmen (Barclays, Rolls-Royce, BAE Systems, Glencore – alles prominente britische Konzerne) erfolgreich bearbeitet.
Deutschland fehlt es an Macht und Instrumenten
Im Gegensatz dazu haben deutsche Behörden und Unternehmen zwar seit Jahren die Zusammenarbeit mit US-amerikanischen und britischen Behörden bei internationalen Unternehmensskandalen gesucht (zum Beispiel in den Fällen Siemens und Daimler, um nur zwei zu nennen), aber sie taten dies, um die Strafverfolgung zu unterstützen, aber auch, um den Schaden für deutsche Unternehmen zu begrenzen.
Diese defensive Kooperationsstrategie war insgesamt erfolgreich. Allerdings hat sie nur die Rolle der Vereinigten Staaten als globaler Sheriff bei Unternehmensstraftaten bestätigt. Und im Gegensatz zu der beeindruckenden Härte, die britische Behörden gegenüber ihren eigenen Top-Unternehmen normalerweise an den Tag legen, scheint Deutschland dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein – nicht einmal im Falle deutscher Unternehmen.
Wie vergleicht sich das mit der Situation in Deutschland? Was deutsche Staatsanwälte in den letzten 20 Jahren aufgedeckt und strafrechtlich verfolgt haben, ist beeindruckend (Siemens, Eurofighter Austria, Bernie Ecclestone, um nur einige zu nennen).
Deutschland ist also nicht schwach in der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität an sich. Weshalb sie im internationalen Vergleich dennoch deutlich hintanstehen, ist, weil sie nicht die Mittel dazu haben, effektiv durchzugreifen — und Strafen zu verhängen, die geeignet sind, auf Unternehmensebene nachhaltig zu Verhaltensänderungen zu führen.
Ein eher leerer Werkzeugkasten
Da das deutsche Recht weiterhin auf Straftaten von Einzelpersonen ausgerichtet ist und Unternehmen nur eine untergeordnete Rolle spielen, ist die Justiz eher benachteiligt.
Hinzu kommen komplexe und langwierige Verfahren, uneinheitliche Rechtsrahmen und Strafverfolgungsstrukturen sowie überlastete lokale Staatsanwälte, die naturgemäß mit begrenzten Ressourcen arbeiten.
Die einzige wirkliche Waffe der deutschen Behörden, das Ordnungswidrigkeitenrecht, sieht im internationalen Vergleich nur geringe Geldstrafen vor und kann nur durch zusätzliche Vermögensabschöpfungen eine echte Wirkung auf das Verhalten von Unternehmen erzielen. Während Frankreich in einem einzigen Fall Geldstrafen in Höhe von zwei Milliarden Euro verhängen kann, verfügt Deutschland über keine gesetzlichen Mittel für Geldstrafen.
Interessanterweise gibt es in den Vereinigten Staaten, im Vereinigten Königreich und nun auch in Frankreich Kooperationsverfahren zwischen Unternehmen und Behörden, die die üblichen gerichtlichen Ermittlungsverfahren ergänzen, aber auch ersetzen können. Diese Kooperationsverfahren haben drei wesentliche Merkmale: Sie sind schnell, schmerzhaft und radikal.
„Schnell“ bedeutet eine durchschnittliche Verfahrensdauer von etwa zwei Jahren. „Schmerzhaft“ bedeutet extrem hohe Verfahrenskosten und sehr hohe Geldstrafen (die beide von den Unternehmen getragen werden). Und „radikal“ bedeutet, dass Unternehmen (nach schwerwiegenden Feststellungen) in der Regel ihre Führungsspitze austauschen, massive und dokumentierte Verbesserungsbemühungen nachweisen und einen Monitor — oder einen „Bewährungshelfer“ — akzeptieren müssen.
Brutal, aber zielgerichtet
Diese Verfahren — oft hart, manchmal brutal — sind jedoch für den Staat deshalb sinnvoll, da sie nur begrenzte Ermittlungsanstrengungen erfordern, hohe Geldstrafen nach sich ziehen und einen raschen Wandel des Geschäftsverhaltens der betroffenen Unternehmen bewirken.
Sie sind auch für die Unternehmen sinnvoll, da sie relativ schnell abgewickelt werden, die Lähmung und den Reputationsschaden begrenzen und ernsthafte Bemühungen zur Überwindung der Probleme anerkennen.
Die breite Öffentlichkeit nimmt wahr, dass der Gerechtigkeit gedient wird und auch der Rechtsfrieden in überschaubarer Zeit wiederhergestellt wird, während die individuelle strafrechtliche Verantwortung weiterhin verfolgt wird.
Deutschland zögert
In den letzten zehn Jahren hat der politische Druck in Deutschland zugenommen, strengere und erfolgreichere Vorschriften gegen Unternehmenskriminalität zu erlassen. In den für das Land typischen langen rechtspolitischen Diskussionen wurden viele berechtigte Bedenken gegenüber angelsächsischen Praktiken geäußert.
Trotz dieser Bedenken (und eindeutig mit der Absicht, Verbesserungen und Verschärfungen vorzunehmen) versuchte die Merkel-Regierung 2020 mit einem Entwurf für ein „Verbandssanktionengesetz” internationale Standards zu übernehmen. Das Gesetz wurde jedoch nie vom Deutschen Bundestag verabschiedet.
Frankreich kann sich reformieren. Kann Deutschland das auch?
Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Vergleich mit Frankreich. Wie zu erwarten war, wurden die Verfahren der USA und Großbritanniens — sei es gegen Alstom, Technip oder Airbus — auf französischer Seite lange Zeit als unverhüllte Beispiele für US-Imperialismus und Wirtschaftskrieg verurteilt.
Daher gab es Widerstand und sicherlich keine Zusammenarbeit seitens der französischen Behörden oder französischer Unternehmen. Im Verlauf dieser Ermittlungen dominierten nationalistische und antiamerikanische Untertöne die öffentliche Debatte. „Verrat“ und „Ausverkauf“ waren Begriffe, die von Vertretern der französischen Sicherheitsbehörden in den Medien häufig verwendet wurden.
Die französische Regierung ihrerseits war jedoch bereits weiter. Bereits 2014 hatte sie in Paris eine Ermittlungsbehörde ähnlich dem Serious Fraud Office in London geschaffen — die Parquet National Financier (PNF).
Schließlich ging Frankreich mit dem 2016 verabschiedeten Sapin-2-Gesetz in die Offensive im Kampf gegen Korruption. Ziel war es, die französischen Geschäftspraktiken an internationale Standards anzupassen, die dafür notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen und Verfahren zu schaffen und gleiche Wettbewerbsbedingungen mit den Behörden in den USA und Großbritannien herzustellen.
Der deutsch-französische Vergleich
Für Frankreich bedeutete dies einen grundlegenden Wandel, insbesondere für die Beziehungen zwischen Justiz und Unternehmen. Traditionell sahen sich beide Seiten als Gegner. Unternehmen, denen strafrechtliche Verfehlungen nachgewiesen wurden, wehrten sich mit aller Kraft und kooperierten selten, wenn überhaupt.
Mit der Einführung neuer Vorschriften zur Bekämpfung von Compliance-Verstößen in Unternehmen sowie zur Förderung von Transparenz und Zusammenarbeit wurde 2016 ein neues Kapitel in der französischen Rechtsgeschichte aufgeschlagen.
Frankreich wurde für seine Handlungsfähigkeit und seinen Pragmatismus belohnt. Seine Behörden haben sich inzwischen neben denen der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs als Akteure im Kampf gegen internationale Wirtschaftskriminalität etabliert.
Fokus auf die EU-Ebene im Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität
Mit Blick auf die Zukunft stellen sich in Deutschland drei zentrale Fragen:
1. Wie soll in Europa künftig rechtlich mit Unternehmensskandalen umgegangen werden?
2. Ist ein rein nationaler Ansatz noch sinnvoll?
3. Sollte Deutschland seine Anforderungen und Verfahren nicht mit denen in Frankreich und Großbritannien in Einklang bringen?
Nach dem Brexit – und damit dem Ende der internen Zusammenarbeit der britischen Justiz innerhalb der EU – ist eine starke Reform, die zu strengeren deutschen Verfahren und Behörden führt, notwendiger denn je.
Niemand weiß, wie die Unternehmensskandale der Zukunft aussehen werden. Werden sie sich um Datenverstöße drehen? Um von Unternehmen inspirierte digitale Manipulation der Demokratie oder gefährliche Verstöße gegen KI-Vorschriften? Oder um Klimavergehen und Verbrechen gegen unsere Lebensgrundlagen sowie grenzüberschreitende Steuerdelikte?
Wir wissen jedoch eines mit Sicherheit: Unternehmensstraftaten erfordern angemessene juristische Mittel.
Beenden wir das Spiel David gegen Goliath
Die nationalen Behörden und Verfahren zur Bekämpfung von Straftaten wirken wie ein Kampf von David gegen Goliath. Eine Fortsetzung des derzeitigen Kurses — insbesondere in Deutschland mit seinem Fokus auf Einzelverfolgung, verstreuten lokalen Staatsanwälten und den Instrumenten des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG) — ist fast schon eine Farce. Es ist zumindest unangemessen.
Sich bei der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität auf die USA zu verlassen, ist ebenfalls keine Lösung. „Mehr Europa“ — im Sinne einer stärkeren Integration und einer umfassenderen Europäisierung der relevanten Verfahren — war in den letzten 15 Jahren in Europa nicht sehr populär. Zumindest in dieser Frage scheint die Zeit reif für neue Initiativen auf nationaler und europäischer Ebene.
Warum Unternehmensstrafrecht entscheidend ist
De facto ist das Unternehmensstrafrecht in Deutschland durch die Strafverfolgungspraxis und versteckt im OWiG bereits Realität. Aber es ist bei weitem nicht so klar und stark wie in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich.
Die deutschen Verfahren scheinen eher komplex und ineffizient zu sein, da ihnen die Instrumente der Verfahren, internen Ermittlungen und (aufgeschobenen) Strafverfolgungsvereinbarungen fehlen, die führende westliche Partnerländer bieten.
Entgegen der Meinung internationaler Beobachter ist dies nicht in irgendeiner Weise „vorteilhaft” für deutsche Unternehmen ist. Die Komplexität der deutschen Verfahren und ihre internationale Inkompatibilität sind vielmehr ein Wettbewerbsnachteil — nicht nur für das Land und sein Justizsystem, sondern auch für die Unternehmen.
Einfach ausgedrückt: Sie laden zu Mehrfachverfahren, Mehrfachstrafen, Verwirrung, Fehlern und Diskriminierung ein.
Argumente für eine deutsche Initiative
Nach dem Scheitern der Verabschiedung des Verbandssanktionsgesetzes besteht in Deutschland eindeutig Handlungsbedarf. Jüngste Belege dafür liefern die zahlreichen deutschen „Cum-Ex“-Steuerhinterziehungsfälle, an denen Banken, Aktionäre, Investoren, große Anwaltskanzleien und Politiker beteiligt sind. Sie sind bereits auf dem Weg, zu einem neuen deutschen Verfahrensmonster zu werden. Ein leitender Staatsanwalt in diesem Fall ist bereits aus Frustration über die Cum-Ex-Verfahren zurückgetreten.
Der offensichtliche Handlungsbedarf Deutschlands sollte jedoch nicht durch zahlreiche kleine, die Komplexität erhöhende Anpassungen des bestehenden deutschen Rechts berücksichtigt werden. Deutschland sollte das größere europäische Bild betrachten und neue Regelungen in Betracht ziehen.
Vielmehr sollte Deutschland gemeinsam mit Frankreich prüfen, wie in diesem Bereich gemeinsam vorgegangen werden kann. Zu empfehlen ist ein System, das die europäischen Rechtstraditionen bewahrt und durch die Effizienz der angelsächsischen Systeme bereichert wird. Frankreich ist hier auf dem Kontinent führend. Die dort gemachten Erfahrungen sollten für einen deutschen Ansatz genutzt werden, der auf institutioneller Vergleichbarkeit und Komplementarität basiert.
Fazit & Nachwort
Eine umfassende und grenzüberschreitend kompatible Regelung kann nur von Vorteil sein. Das gilt für die Justiz, für die Unternehmen sowie für die Idee der Rechenschaftspflicht, Transparenz und, ganz wörtlich, Rechtsfrieden und Fairness.
Das Land mit der größten Wirtschaftskraft in Europa hat allen Grund zu beweisen, dass es in diesem Bereich handlungs- und partnerschaftsfähiger werden kann. Vielleicht könnten Paris und Berlin eine solche Initiative sogar auf die EU-Mitgliedstaaten ausweiten, damit diese sich anschließen.
Die Kernidee ist, nicht nur eine kompatible und wirksame nationale und europäische Regulierung zu schaffen, sondern auch nationale und europäische Institutionen, die auf Augenhöhe mit dem „amerikanischen Sheriff“ agieren könnten.
Dies wäre in der Tat ein großer Schritt vorwärts für die oft diskutierte, aber selten verwirklichte „europäische Souveränität“. Europa würde damit zu einem starken transatlantischen Partner der Vereinigten Staaten werden.
Nachwort
In den letzten Monaten hat sich die rechtspolitische Landschaft in Deutschland nur punktuell verändert. Die seinerzeit gescheiterte Einführung eines Verbandssanktionengesetzes wurde von der Ampelkoalition nicht wieder aufgenommen — trotz entsprechender Ankündigungen im Koalitionsvertrag. Ein eigenständiges Unternehmensstrafrecht existiert weiterhin nicht.
Zwar wurden mit dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (2023), dem Hinweisgeberschutzgesetz (2023) und der Reform der BaFin (ab 2021) gewisse regulatorische Fortschritte erzielt, diese betreffen jedoch eher die Ordnungs- und Verwaltungsebene. Substanzielle strafrechtliche Reformen, wie sie etwa in Frankreich oder im Vereinigten Königreich realisiert wurden, stehen in Deutschland weiterhin aus.
Inzwischen gewinnt die Diskussion auf europäischer Ebene an Dynamik: Harmonisierungsvorschläge für strafrechtlich relevante Unternehmenspflichten bei Umwelt-, KI- oder Finanzvergehen liegen auf dem Tisch. Deutschland könnte hier gestaltend eingreifen — tut es aber bislang nicht.
Die in diesem Beitrag formulierte Diagnose bleibt daher aktuell: Deutschland agiert in der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität zurückhaltend, fragmentiert und ohne strategische Schlagkraft. Es ist an der Zeit, aus Beobachter- und Kooperationsrolle herauszutreten — und selbst Standards zu setzen.
ENDS