Der unser Land kulturell so bereichernde Föderalismus bedarf eines zeitgemäßen Updates – durch eine digitale Kreativitätsoffensive. Nur so lässt sich diese historisch gewachsene und weltweit fast einmalige Vielfalt bewahren – und demokratisieren!
Interview
Markus Hilgert
Generalsekretär und Vorstand der Kulturstiftung der Länder
mit Annette Riedel
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DATE
13. November 2021
Deutschlandfunk “Tacheles” | Audio
Annette Riedel: Ich begrüße Sie zu einem Tacheles mit Markus Hilgert. Er ist Generalsekretär und Vorstand der Kulturstiftung der Länder. Schönen guten Tag erstmal!
Markus Hilgert: Guten Tag!
Annette Riedel: Markus Hilgert hat gerade ein Strategiepapier geschrieben, und zwar für das „Deutschland in Europa“-Projekt des von der Mercator Stiftung geförderten Global Ideas Center. Sie stellen da, Herr Hilgert, dem Kulturbetrieb in deutschen Landen ein ziemlich verheerendes Zeugnis aus. Ich zitiere mal: „Wir haben in der Kultur die Relevanz und die transformative Kraft der Digitalisierung bisher in unverantwortlicher Weise verschlafen.“ Wer ist wir? Kulturmanager, Kulturpolitik, Kulturschaffende? Wer hat da geschlafen?
Markus Hilgert: Ich denke, das trifft auf die meisten Menschen zu, die für den Kulturbereich Verantwortung tragen – sei es in den Institutionen, aber auch auf der politischen Ebene. Es geht auch gar nicht darum, jetzt jemanden an die Wand zu stellen oder mit dem Finger auf Versäumtes zu zeigen, sondern vielmehr darum, deutlich zu machen – gerade auch in der Pandemiesituation, in der wir uns ja immer noch befinden, dass wir darüber nachdenken müssen, wie wir die Relevanz der Kultur und der Kulturinstitutionen auch angesichts der großen gesellschaftlichen Herausforderungen – Nachhaltigkeit, Ethik – gewährleisten.
Annette Riedel: Sie wollen niemanden an die Wand stellen, sagen sie, aber sie teilen schon heftig aus. Ich zitiere noch mal: „Die Akteure könnten zu Totengräbern unserer Kulturlandschaft werden.“ Ehrlich gesagt, für mich klingt das ein bisschen wie das Einrennen weit offener Türen. Es ist doch einfach nicht so, dass da wirklich geschlafen worden ist, sondern dieser Digitalisierungsschub, den Sie fordern, der hat doch längst begonnen – auch schon vor der Pandemie.
Markus Hilgert: Der Digitalisierungsschub hat begonnen – ja auch schon vor der Pandemie, aber er ist nicht da, wo er sein sollte nach 30 Jahren digitaler Anwendungen, digitaler Technologie. Wir fangen ja wirklich nicht erst an, sondern gut funktionierende Computer, mit denen man z.B. in Wissenschaft und Kultur arbeiten kann, gibt es seit etwa 30 Jahren. Dass man Forschungsbestände beipielsweise digital verfügbar machen muss, weiß man seit Anfang der 1990er Jahre. Das wird beispielsweise in den Vereinigten Staaten auch getan. Und dass man darüber nachdenkt, wie man kulturelle Inhalte so aufbereitet, dass sie auch in digitalen Debattenräumen rezipiert werden können, ist auch keine neue Anforderung.
Natürlich haben wir damit begonnen, aber wir sind längst nicht so weit, wie wir sein sollten, weil sich gerade auch zeigt, dass in den digitalen Debattenräumen Debatten geführt werden, die wenig mit Demokratie, die wenig mit Aufklärung zu tun haben und die vor allem ganz wenig mit den Inhalten der Kulturinstitutionen zu tun haben.
Annette Riedel: Ich habe mich in Vorbereitung auf dieses Gespräch mal ein bisschen umgeschaut und ja, zugegeben im Ausland – Stichwort die Smithsonian in USA, das Getty Research Institute oder auch die Uffizien in Florenz. Also es gibt im Ausland Beispiele dafür, dass man weiter ist an dem Punkt. Aber auch in Deutschland – mit Verlaub – passiert seit geraumer Zeit einiges. Also beispielsweise gibt es seit 2012 ein Forschungs- und Kompetenzzentrum „Digitalisierung“. Da können Gelder beantragt werden, um eben Bestände zu digitalisieren. Es gibt das Museum 4.0, ein vom Bund gefördertes Projekt, wo eben auch die Staatlichen Museen Berlins Digitales erproben können.
Markus Hilgert: Es ist richtig, dass es Leuchtturmprojekte gibt. Sie haben das Museum 4.0 angesprochen. Da bin ich selbst involviert gewesen. Das ist ein enorm wichtiges Projekt, inzwischen knapp fünf Jahre alt. Entscheidend ist, dass man mit den Anliegen, die in großen oder größeren Institutionen punktuell umgesetzt werden, auch in die Fläche geht. Das heißt, dass man die mittelgroßen, die kleinen Einrichtungen erreicht, von denen es tausende in Deutschland gibt und die vielfach keine digitale Präsenz haben, die nicht mal über eine Webseite verfügen.
Wir reden nicht über die großen Institutionen, denen es leicht fällt, entsprechende Kompetenzen und Kapazitäten aufzubauen und zu finanzieren, sondern wir reden über die große Anzahl auch an gemeinnützigen Vereinen, an Fördervereinen, die im Kulturbereich aktiv sind, die beispielsweise in der Pandemie auf einmal schmerzlich festgestellt haben, dass sie eben nicht digital präsent waren.
Um die geht es. Es geht um den Erhalt der Vielfalt. Es geht nicht darum, einzelne Institutionen noch besser werden zu lassen, sondern es muss darum gehen, in der Fläche, auch in den ländlichen Räumen, diese Präsenz zu erhalten.
Annette Riedel: Und wo soll es hingehen? Wir haben mal so einen Leuchtturm: das Jüdische Museum Frankfurt, die seit 2016 sehr stark an der Digitalisierung ihrer Angebote – nicht nur der Bestände – arbeiten, die Social Media mit einbeziehen, die einen eigenen YouTube-Kanal haben, die bei Google Arts & Culture eine Reihe von digitalen Ausstellungen haben – also das ganze Spielfeld beackern. Dahin soll es gehen? Für alle? Immer?
Markus Hilgert: Nicht für alle immer! Aber ich glaube, es ist wichtig, dass die Institutionen sich im Rahmen einer Strategiebildung und auch im Rahmen ihrer Organisationsentwicklung darüber Gedanken machen: Mit wem will ich auf welche Art und Weise kommunizieren?
Sie haben die Bandbreite der verschiedenen Möglichkeiten genannt, Social Media, Google Arts & Culture andererseits, möglicherweise digitale Führungen. Das Entscheidende ist ja, das Medium intelligent und anlassbezogen zu nutzen und auch auf die Institution zugeschnitten zu benutzen. Es macht keinen Sinn, wenn ein Kunstverein, der von zwei ehrenamtlichen Menschen geleitet wird, auf zehn verschiedenen Kanälen digital kommuniziert. – Ich überzeichne das jetzt.
Aber dass dieser Kunstverein doch vielleicht für diejenigen Menschen, die er primär erreichen will, dasjenige Medium findet und bespielt, dass diese Menschen auch erreicht, halte ich für sinnvoll. Das heißt, es geht um einen an der Strategie, an der Zielsetzung, am Leitbild der Institutionen ausgerichteten Prozess, der versucht umzusetzen, dass das Digitale ja kein Fremdkörper mehr ist, dass es kein add on ist, sondern dass wir ja längst in einer postdigitalen Welt leben, wo Digitales und Analoges eng miteinander verwachsen sind.
Annette Riedel: Sie beklagen, dass es eigentlich bis Corona – das Stichwort fiel eben schon – so eine Art Festklammern am Status quo gab. Corona war also aus Ihrer Sicht eine Art Katalysator. Vielleicht war Corona nicht der Grund für das, was jetzt passiert, aber zumindest der Anlass, die Digitalisierung voranzutreiben. Glauben Sie, dass das nachhaltig ist? Oder wird man, wenn diese verflixte Pandemie irgendwann vorbei ist, zurückkehren zum Status davor?
Markus Hilgert: Letzteres kann ich mir nicht vorstellen. Es gibt kein Zurück. Wir sind ja in der Tat noch mitten in der Pandemie. Was man aber in den letzten Monaten schon beobachtet hat, ist, dass einige Kulturinstitutionen wieder recht gut zurückgefunden haben zu den Besucherzahlen, die sie auch vor der Pandemie hatten. Die Mehrheit der Institutionen hat aber tatsächlich feststellen müssen, dass ein Großteil der Besucher, die vorher physisch, analog gekommen sind, nicht mehr kommen.
Insofern glaube ich, auch mit Blick auf Mobilität in der Zukunft, Mobilität hat ein paar Pandemie-Gesichtspunkte, aber sie hat auch einen Klima-Gesichtspunkt, dass wir tatsächlich etwas Wichtiges gelernt haben, dass wir nämlich, wenn wir möchten, dass Kulturinstitutionen relevant bleiben, also, wenn sie einen Platz in der Gesellschaft bei den Menschen haben, dass sie dann auch noch einmal neu darüber nachdenken müssen, wie sie ihre Inhalte mit welchen Medien so kommunizieren, dass sie eben auch die Menschen erreichen, die – aus welchen Gründen auch immer – in Zukunft nicht mehr kommen können oder kommen werden.
Annette Riedel: Würden Sie also sagen, dass das Modell Museum, wie wir es bisher kannten, ausgedient hat? Und in der digitalen Moderne, in der die Museen ankommen müssen, gibt es keine abgeschlossenen, einmaligen Orte mehr, die man dann aufsuchen muss? Dass es vielmehr zunehmend wichtig wird, dass die Museen online ins Netz stellen, was sie über das hinaus, was sie vor Ort tun, anbieten können?
Markus Hilgert: Letzteres. Und das schließt nicht aus, dass nämlich das Museum als besonderer aufgeladener performativ inszenierter Raum….
Annette Riedel: Aber wenn keiner mehr hingeht und sie sich alle die Werke, die Objekte online anschauen….
Markus Hilgert: Aber das ist ja nicht so. Es wird immer dieses Entweder-Oder aufgemacht. Wir haben ja auch nicht aufgehört in Konzerte zu gehen, nur weil es seit einigen Jahrzehnten Schallplatten gibt. Unser Verhalten, unsere Rezeption hat sich verändert. Ich glaube wirklich, der entscheidende Denkfehler ist, zu sagen, es gibt entweder oder. Oder das Digitale ersetzt das Analoge. – Nein, natürlich nicht! Es ist eine andere Wahrnehmungsdimension, die auch andere Vermittlungsdimensionen eröffnet.
Sie können natürlich digital sehr viel mehr Inhalt, auch kuratiert, zu einem Kunstwerk beispielsweise oder zu einem kulturgeschichtlichen Objekt hinzugeben als physisch in einem Raum. Das heißt, Sie haben auch ganz andere Möglichkeiten, personen- oder zielgruppenspezifisch zu vermitteln.
Das heißt aber nicht, dass die Museen als besondere physische Orte für die Begegnung mit dem Original aufhören zu existieren oder aufhören, ihre Funktion zu übernehmen. Aber ich glaube schon, dass wir gerade auch angesichts der Frage, wie wir klimagerecht und klimaneutral Kultur produzieren, darüber nachdenken müssen, ob es nicht Alternativen zu den Blockbuster-Ausstellungen gibt, bei denen Kunstwerke aus drei Kontinenten eingeflogen werden, mit Kuratorinnen und Kuratoren, wo dann sehr viele Leute, das ist schön, eine Million Leute sich auf den Weg machen, mit dem Auto, mit der Bahn, mit dem Flugzeug hinfahren, nur um diese Ausstellung zu sehen. – Ist das noch das Modell?
Da glaube ich: Nein. Das ist nicht mehr das einzige Modell, sondern wir müssen daneben auch andere Formate erdenken, die tatsächlich diesen Anforderungen an Klimagerechtigkeit, an eine eingeschränkten Mobilität – etwa in einer Pandemie – Rechnung tragen.
Annette Riedel: Also die berühmten hybriden Modelle. Sie gehen in dem erwähnten Strategiepapier so weit, dass Sie sagen: Es ist nicht nur unzeitgemäß und unökologisch, sondern latent elitär und undemokratisch, dass man Menschen auffordert, sich an den Ort von kulturellen Ereignissen zu begeben. Ist analoge Kultur – sind die Museen, wie wir sie kennen – tendenziell elitär?
Markus Hilgert: Man muss zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, dass etwa 50 % der Menschen in unserer Gesellschaft keine Kulturinstitution mehr aufsuchen. Das gilt nicht nur für die Museen. Das gilt für die Theater, auch für die Opern.
Annette Riedel: Aber 50 % tun das. Und es ist ja nicht 50 % Elite.
Markus Hilgert: Wir können dann gleich nochmal darüber sprechen, wer tatsächlich in die Oper geht, wer sich diese Tickets leisten kann. Lassen Sie uns nicht vergessen, dass das Gros der Kulturinstitutionen in Deutschland aus Steuergeldern finanziert wird. Das heißt, es geht vielleicht gar nicht so sehr darum, bei diesen Zahlen zu verharren. Sondern es geht darum zu überlegen: Was ist eigentlich die Ambition einer Kultureinrichtung? Wen will sie denn erreichen? Ist sie zufrieden damit, dass sie nur einen bestimmten Prozentsatz der städtischen Bevölkerung erreicht?
Ich glaube, nein, das kann nicht sein. Denn wenn wirklich alle dazu beitragen, dass eine solche Institution existieren kann, dann sollte doch zumindest auch der Anspruch bestehen, möglichst viele von diesen Menschen für das zu interessieren, was in einer solchen Institution geschieht. Das kann ja auf ganz unterschiedliche Art und Weise geschehen.
Wir sprechen inzwischen häufig davon, dass Kulturinstitutionen zu dritten Orten werden, also zu Orten, an denen man sich begegnet, die gesellschaftlich relevant sind – jenseits des Zuhauses und jenseits des Arbeitsplatzes. Das halte ich z.B. für ein schönes Modell, weil es darauf hinauslaufen kann, dass Barrieren abgebaut werden. Aber solange ich gerade bei jüngeren Menschen, aber nicht nur bei jüngeren Menschen höre, „ich hab doch gar nichts im Museum verloren. Ich habe doch nichts in der Oper verloren“, frage ich mich, ob das noch richtig und gut ist.
Annette Riedel: Und die gucken sich das dann digital an – die Bilder, den Mitschnitt oder den Livestream einer Oper? Also wenn schon das magische Moment nicht lockt, Kunst live und in Farbe mit anderen gemeinsam zu erleben, dann lockt das zweidimensionale, digitale?
Markus Hilgert: Nicht so, wie Sie es jetzt formulieren. Auch das ist ja wieder Schwarz-Weiß, Entweder-oder. Ich glaube, dass man natürlich in den digitalen Medien auch die digitale Ansprache und den Kontakt so gestalten muss, dass er dann eben auch attraktiv ist. Natürlich wird man nicht mit einem dreistündigen Mitschnitt einer Oper jemanden für die Oper notwendigerweise begeistern können, der bislang seinen Weg auch nicht in die Oper gefunden hat.
Aber mit einem witzigen Clip, der 60 Sekunden dauert, wo in kurzen knappen Worten der Plot der Oper, vielleicht auch mit zeitgenössischer Sprache vermittelt wird, wo es gute Bilder gibt, die emotional ansprechen, da gibt es doch vielleicht die Möglichkeit zu sagen: „Ach, das ist interessant. Das sind Themen, mit denen ich mich auch beschäftige.“
Annette Riedel: Das passiert ja aber auch schon – wiederum eine offene Tür. Man erlebt es im Kino, es gibt ja auch Oper im Kino mittlerweile. Es gibt diese Trailer, diese kurzen Hinweise darauf. Es ist ja alles in der Mache.
Markus Hilgert: Es ist schon in der Mache, aberes gibt es nicht in der Breite. Wir brauchen doch an den Bibliotheken, an den Archiven, an der Breite der Museen, der Kunstvereine, der soziokulturellen Zentren die Kompetenzen und auch die Kapazitäten, so etwas zu tun.
Wenn Sie wie ich z.B. als Wissenschaftler ausgebildet sind, wissen Sie ja nicht, wie Sie ein solches Video produzieren. Da muss man sich mit Ton auskennen. Da muss man sich mit Licht auskennen, all diesen Dingen, die den Profis in diesem Bereich selbstverständlich sind, die aber für Menschen, die z.B. das Kuratieren oder das wissenschaftliche Arbeiten gelernt haben oder auch das Kommunizieren in traditionellen Medien, nicht selbstverständlich sind.
Letztlich geht es ja darum, den gesamten Kulturbereich digital so zu transformieren, dass auch die agilen digital gestützten Methoden stärker einbezogen werden, dass Menschen, die vielleicht in einer Einrichtung bislang wenig oder gar nicht miteinander kommuniziert haben, das in Zukunft tun, weil es am Ende das Tages ja darum gehen muss, in der Breite unserer Kulturlandschaft, die ja wirklich enorm ist, diese Inhalte dann eben auch in digitalen Räumen präsent zu machen.
Annette Riedel: Und sie befürchten nicht, dass dann der Kampf um die Aufmerksamkeit –es gibt ja auch den schönen Begriff der Aufmerksamkeitsökonomie – so hart geführt wird, dass wenn der Weg über das Digitale gesucht wird von Kultur, dass das dann Einfluss nimmt auf Inhalte, also dass das Einfluss nimmt auf das Kuratieren von Ausstellungen, dass das Einfluss nimmt auf den Spielplan von Theatern und es dann nur noch darum geht, wie kriegen wir die Klicks? Und dass das zu einer Art von Verflachung – vielleicht will man das ja auch–, aber dass es dazu führt.
Markus Hilgert: Die Gefahr ist da. Wie bei jedem Medium gibt es auch hier natürlich viele Gefahren und Fallstricke. Den Kampf um die Aufmerksamkeit gibt es aber schon jetzt. Die Frage ist ja: Wollen wir als Kulturinstitutionen, die wie kein anderer Bereich Inhalte in Hülle und Fülle hat, und zwar Inhalte, die aus der Gegenwart zurückreichen bis zu den Anfängen der Menschheit, wollen wir wirklich das Kommunizieren von Kultur, das Produzieren von kulturellen Formaten den großen kommerziellen Plattformen überlassen? Oder wollen wir das nicht lieber selbst tun, indem wir mit unseren Inhalten arbeiten und diese Inhalte eben so aufbereiten, dass sie gut vermittelt werden können?
Die Gefahr der Verflachung, der Anpassung, der Kommerzialisierung ist da, auch der Popularisierung.
Annette Riedel: Ist ja nichts Schlechtes per so. Aber es ist schwierig, wenn alles nur noch in diese Richtung geht.
Markus Hilgert: Völlig d’accord! Aber das ist nicht das Problem digitaler Technologien, sondern ein Problem, was wir generell erleben überall dort, wo kommerziell gedacht wird oder gedacht werden muss.
Annette Riedel: Sie hören Deutschlandfunk Kultur. Wir reden Tacheles mit Markus Hilgert, Generalsekretär und Vorstand der Kulturstiftung der Länder. Wir diskutieren, ob und wie sich Kultur, nicht zuletzt auch die Museen mit und durch die Digitalisierung neu erfinden können und vielleicht auch müssen. Es fiel schon ein paarmal das Stichwort „Man will ein breiteres, man muss ein breiteres Publikum ansprechen“. Das besonders scheue Reh, wenn es um das Publikum geht, sind die jüngeren Leute – schreiben sie auch in ihrem Strategiepapier, dass die besonders schwer in die traditionellen Kultureinrichtungen zu bekommen sind. Aber auch da gibt es natürlich mittlerweile Gegenbeispiele: Beim Humboldt-Forum gibt es eine Ausstellung des Humboldt Labors. Die ist sehr vielschichtig und spielt mit allen möglichen Medien. Und das Interessante war an diesem Mittwochabend, als ich da war, waren zu 95 Prozent junge Leute unter 30.
Markus Hilgert: Das Humboldt-Forum ist natürlich schon ein ganz besonderer Ort, der ganz unterschiedliche Menschen im Moment anzieht, weil er eben auch neu als Kulturinstitution im Herzen Berlins entstanden ist.
Annette Riedel: Na gut, aber die waren in dieser Ausstellung, die mussten sich vorher anmelden dafür, die mussten sich gezielt entscheiden, dahinzugehen. Und das waren junge Leute.
Markus Hilgert: Noch einmal: Wir reden nicht über die Einzelfälle, sondern wir reden sozusagen über die 50 %, die nach vielen Untersuchungen keine Berührung mit Kulturinstitutionen haben. Und wir reden vor allen Dingen über die Breite der Institutionen in unserem Land, also auch in den ländlichen Räumen, wo Mobilität eine Herausforderung ist, wo auch schnelles Internet nach wie vor eine Herausforderung ist.
Die Frage, die sich mir stellt, ist, wie wir auch diese Menschen, die vielleicht nicht die Möglichkeiten haben, in Berlin ins Humboldt-Forum zu gehen, für Kultur und Kulturinstitutionen interessieren bzw. anders herum gesagt, wie wir die Barrieren abbauen können, wo inzwischen klar ist, es sind nicht primär die Barrieren des Eintrittspreises. Es sind auch nicht unbedingt Mobilitätsbarrieren, obwohl die im ländlichen Raum eine große Rolle spielen können. Es sind Barrieren, die dadurch entstehen, dass ich persönlich nicht glaube, dass mir das auf der anderen Seite in der Kulturinstitution etwas zu sagen hat.
Da gibt es viele Beispiele an Vermittlungsprojekten in Kulturinstitutionen, wie man damit arbeiten, wie man damit umgehen kann, wie man Menschen tatsächlich, die bislang keinen Zugang hatten, begeistern kann.
Worüber wir noch gar nicht gesprochen haben: Wie machen wir unseren Kulturbereich diverser? Wie sorgen wir dafür, dass die gesellschaftliche Diversität, die wir haben nicht nur in den Großstädten, tatsächlich auch in den Sammlungen, in den Opernhäusern – in den Theatern wird das vielfach schon gemacht – sehr viel stärker abgebildet wird, so dass sich eben dann auch mehr Menschen in unserem Land mit Migrations- oder Fluchtgeschichte angesprochen fühlen?
Auch da ist natürlich das digitale Medium viel flexibler, weil ich die ganze Bandbreite der Vielstimmigkeit, der Multiperspektivität darin gut auffächern kann.
Annette Riedel: Also im Grunde kritisieren Sie, dass zu viele Museen in Deutschland noch Museen von Museen sind, dass sie dieses Image des Verstaubten, des Unmodernen nicht abgelegt haben und wie das gehen kann, sieht man an vielen Beispielen im Ausland: In Belgien beispielsweise das Flandern Museum über den Ersten Weltkrieg, die das machen, und das neue Afrika Museum – das mit den ganzen Spielarten, die vorhanden sind, umgeht. Sie wünschen sich, wenn ich Sie richtig verstehe, dass alle Museen auf die jeweils spezielle, auf sie zugeschnittene Art und Weise – aber in der Moderne – ankommen und aufhören, verstaubt zu sein.
Markus Hilgert: Ganz genau! Bei den kleinen und kleinsten Museen – ich rede von den 6.000 Museen, die es in Deutschland gibt, und da reden wir nur über die Museen, nicht über die Kunstvereine, nicht über die sozio-kulturellen Zentren – haben wir es ja häufig mit Institutionen zu tun, die ehrenamtlich von zwei bis drei Menschen geführt sind. Dass man denen auf die Sprünge hilft – in Anführungszeichen – aber auch den mittelgroßen Einrichtungen, halte ich für wichtig. Das halte ich auch für eine politische Aufgabe. Noch einmal: Es ist keine Kritik an den Institutionen. Es ist nicht die Aussage, „ihr seid verstaubt“. Sondern die Aussage ist: Wir müssen dafür sorgen, dass auch diese Einrichtungen, dass dieses Engagement der Menschen, die sich für die Kultur einsetzen, eben auch digital präsent ist.
Annette Riedel: Aber sie würden nicht so weit gehen, dass sich bestimmte Kultureinrichtungen, Museen, eigentlich überlebt haben als Ort?
Markus Hilgert: Nein! Absolut nicht!
Annette Riedel: Also nicht nur digital, sondern auch digital?
Markus Hilgert: Auch digital. Es sind zwei unterschiedliche Rezeptionsräume, wenn Sie so wollen. Das Sich-in-ein-Museum-begeben, den Mantel ausziehen, einschließen, in einen Raum gehen, ist eine so großartige physische, körperliche Erfahrung, dass man die nicht ersetzen kann – vielleicht immersiv in einer 3D-Simulation. Trotzdem ist es was anderes, ob ich das zu Hause im Wohnzimmer mache oder ob ich mich tatsächlich auf den Weg beispielsweise auf die Berliner Museumsinsel mache.
Dlk: Apropos 3D – vielleicht ist das die nächste Revolution. Wenn ich mir Ausstellungsobjekte, wenn ich mir ein Theaterstück, wenn ich mir eine Lesung als Livestream angucke, dann habe ich da einen zweidimensionalen Bildschirm, vor dem ich im Zweifel alleine hocke. Die ganze Magie, die da entstehen sollte, geht an mir verloren. In dem Moment, wo ich 3D habe, betrete ich die Kunstwerke, betrete ich die Bühne, stell mich neben die Sopranistin – bin also mittendrin.
Markus Hilgert: Genau. Das ist, glaube ich, das Entscheidende: der Perspektivwechsel, den das Digitale ermöglicht. Sie können tatsächlich, wenn es gut gemacht ist, und solche Formate gibt es längst, hier beispielsweise im Konzerthaus in Berlin, im Deutschen Museum in München, Orte betreten digital, die Sie bislang nicht betreten konnten. Sie können in eine Dampfmaschine hineingehen. Sie können aber auch mitten auf der Bühne dem Ballett zuschauen oder mitten im Orchester sitzen.
Das sind Perspektivwechsel, die digitale Technologie ermöglicht, die so physisch nicht möglich sind. Das ist aber eben nur ein Bereich. Insgesamt ist wichtig zu verstehen, dass das Digitale uns Rezeptionsmöglichkeiten eröffnet, auch Vermittlungsmöglichkeiten eröffnet, Möglichkeiten der Transparenz eröffnet, die wir sonst nicht hätten, die wir dringend brauchen, auch wenn es z.B. um Fragen des ethischen Umgangs mit Museumsbeständen geht. Wir haben, wie Sie wissen, zurecht, Gott sei Dank, inzwischen eine intensive Debatte über Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Da gibt es die große Frage: Was gibt’s denn überhaupt? Das ist überhaupt nur digital transparent zu machen. Auch da zeigt sich, dass noch sehr, sehr viel zu tun ist, um an diesen Punkt der Transparenz und Rechenschaftsfähigkeit zu kommen.
Annette Riedel: …weil ja auch immer nur Bruchteile der Bestände gezeigt werden. Aber da stellt sich dann natürlich in dem Zusammenhang auch die Frage nach der Professionalität. Also wenn ich einfach eine Mini-Cam auf eine Bühne halte und dann meine, das ist schon Live-Streaming, dann gewinne ich ja mein Publikum auch nicht. Also muss dann auch in dem Zusammenhang eine große Professionalisierungsoffensive gestartet werden.
Markus Hilgert: Ganz korrekt bzw. eine Organisationsentwicklung in den Einrichtungen, die dafür sorgt, dass diese Kompetenzen auch in den Einrichtungen vorhanden sind. Wir haben gemeinsam als Folge der Pandemie mit der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, also die Kulturstiftung der Länder und die BKM, ein großes Programm aufgelegt, um genau das zu erreichen, „Kulturgemeinschaften“, wo wir über die Produktion digitaler Inhalte versuchen, die Kompetenzen in den Einrichtungen zu stärken und auch die Strategiebildung im Bereich der digitalen Kommunikation zu stärken.
Was natürlich nicht passieren darf, ist, dass alles von außen eingekauft wird und dass das Wissen nach dem Abschluss des Projekts die Einrichtung wieder verlässt. Nein, wir brauchen in der Tat in den Einrichtungen Menschen, die das können, die das wollen und die – ähnlich wie es in der Wirtschaft auch gewesen ist in den letzten Jahren oder noch ist – darüber nachdenken, wie der Umgang mit digitalen Technologien die Organisation, die Kommunikation und, wenn Sie so wollen, die Wertschöpfung sowie das Miteinander in der Institution verändern.
Annette Riedel: Apropos Einkauf – wir müssen noch über Geld reden in diesem Zusammenhang. Vieles in der Kultur digital anzubieten, heißt ja nicht, dass man es umsonst anbieten kann – nicht alle Einrichtungen sind aus Steuermitteln finanziert. Denken Sie auch an völlig neue Geschäftsmodelle? Also wie es zum Beispiel die Uffizien – berühmtes Museum unter deutscher Leitung im Übrigen – in Florenz macht, dass Sie sagen: Wir verkaufen Reproduktionen von Kunstobjekten in 2D, 3D, die wir zertifizieren über eine Blockchain-Technologie – wir behaupten nicht, dass es die Originale sind, aber wir können auf diese Art und Weise Geld verdienen.
Markus Hilgert: Natürlich. Digitale Geschäftsmodelle sind auch in der Kultur etwas, worüber man nachdenken muss. Es ist gut, dass in Deutschland die Kultur so breit und so umfassend öffentlich finanziert ist, weil das Freiräume gewährt . Gleichzeitig bedeutet das ja nicht, dass man nicht darüber nachdenkt, wie man die Freiräume vielleicht noch dadurch erweitern kann, dass man selbst auch Geld verdient mit Angeboten, die aber konkurrenzfähig sein müssen. Und da bin ich völlig bei Ihnen: Der mit einem Handy gedrehte Mitschnitt einer Theateraufführung ist wahrscheinlich nicht so attraktiv, dass Nutzerinnen und Nutzer dafür gerne Geld bezahlen. Das ist auch tatsächlich in Deutschland die Beobachtung, dass die digitalen Angebote eher kostenfrei wahrgenommen werden als gegen Bezahlung, weil man natürlich dann im Raum der Videoangebote konkurriert mit den großen kommerziellen Plattformen, die das extrem professionell machen.
Man wird aber auch darauf gefasst sein müssen, dass die analogen Angebote sich verändern müssen, wenn es wirklich so ist, dass wir Publika verlieren durch die Pandemie und durch den stärkeren Einsatz von digitalen Medien. Also, wie können analoge Angebote so attraktiv gemacht werden, dass man dann gerne auch bereit ist, 80, 90 Euro für den Opernbesuch zu bezahlen?
Das ist aber als Herausforderung erstmal nichts Negatives, sondern könnte ja gleichzeitig auch der Ansporn sein für Kultureinrichtungen, nochmals neu über ihre Rolle in der Gesellschaft nachzudenken.
Annette Riedel: Das heißt, die Oper als solche genügt dann halt nicht mehr? Dann muss sich noch eine Begegnung mit dem Hauptdarsteller oder der Hauptdarstellerin verkaufen im Paket oder ein Empfang anschließend, oder? Was meinen Sie? Was für einen Mehrwert des analogen Angebots kann ich schaffen, damit die Leute bereit sind, die 80, 90 Euro zu zahlen?
Markus Hilgert: Ich glaube, es geht in die Richtung, die Sie gerade genannt haben. Mit wird Zusatzangebote schaffen müssen. Wir beobachten das im Einzelhandel. Wo ist es noch interessant hinzugehen? Das sind die besonderen Orte, wo man Beratung bekommt, wo man vielleicht aber auch ein besonderes persönliches Erlebnis geboten bekommt.
Annette Riedel: Ist aber dann auch wieder elitär, weil das nur für einige wenige sein kann, ein solches Angebot, oder?
Markus Hilgert: Nicht, wenn es öffentlich finanziert ist und wenn es so breit aufgestellt ist, dass man dann wirklich auch größere Zahlen von Menschen….
Annette Riedel: Aber dann ist das nichts Besonderes mehr, wo die Leute auch sagen, dafür greife ich auch tief ins Portemonnaie!
Markus Hilgert: Doch, es ist was Besonderes, wenn es sozusagen zugeschnitten auf unterschiedliche Gruppen ist und eben nicht immer dasselbe ist, nicht immer die Hauptdarstellerin, sondern vielleicht auch die Möglichkeit der Co-Produktion oder Co-Kreation. Es gibt sicher Menschen, die finden das vielleicht gar nicht so toll, mit der Hauptdarstellerin Sekt zu trinken, sondern die möchten vielleicht lieber selbst mitgestalten. Die möchten anhand des Plots einer Oper selber inszenieren.
Wir leben ja in einer Gesellschaft, die selbst sehr kreativ ist, auch in Formaten wie Tiktok. Co-Kreation ist, glaube ich, das Gebot der Stunde. Auch da ist ja das digitale Medium der Ermöglichungsfaktor.
Ich habe längst nicht all diese Antworten, aber ich glaube: Ja, man muss überlegen, wie sowohl das Digitale professioneller wird, um attraktiv zu sein, auch kommerziell erfolgreich zu sein. Und gleichzeitig wird man darüber nachdenken müssen, wie man das Analoge verändert, damit überhaupt noch das Wohnzimmer verlassen wird und man sich an einen bestimmten Ort begibt.
Annette Riedel: Zum Schluss noch eine ganz kurze Frage in Richtung Kulturpolitik: Wir haben die Ampel Verhandlungen im Moment, es wird eine Dreierkoalition mit einiger Wahrscheinlichkeit künftig regieren. Was erwarten Sie von der Kulturpolitik?
Markus Hilgert: Die Themen, die wir gerade hier besprochen haben, aber auch die, die sonst eine große Rolle spielen, auch das Klima beispielsweise, aber eben auch die Frage, wie Künstlerinnen und Künstler sozial abgesichert werden können, sind gesetzt.
Ich glaube, die großen Herausforderungen jenseits der Frage, wer macht es dann am Ende oder in welchem Rahmen macht er es, ist nach wie vor der Ausgleich zwischen der ‚Bundeskultur‘ auf der einen Seite und der ‚Länderkultur‘ auf der anderen Seite. Wir haben eine Kulturhoheit der Länder in Deutschland. Alle 16 Länder haben eine Kulturministerin, einen Kulturminister oder einen Kultursenator. Das ist ganz entscheidend, dass man da zu einem weiterhin guten Miteinander kommt.
Gleichzeitig ist natürlich schon auch für mich die Frage: Wie stellt sich die Kulturpolitik in Deutschland international dar? Wie kann sozusagen das, was im Inneren geschieht in dieser wahnsinnigen Bandbreite, gut finanziert, wie kann das eben auch ein Beitrag zur internationalen Diskussion leisten, so dass z.B. Themen wie Digitalisierung dann auch auf europäischer Ebene anders diskutiert werden und vielleicht auch finanziert werden?
Man darf gespannt sein, was passieren wird, aber die Fragen sind gesetzt und die Herausforderungen letztlich auch.
Annette Riedel: Markus Hilgert, Generalsekretär und Vorstand der Kulturstiftung der Länder, vielen Dank, dass Sie mit uns Tacheles geredet haben!
Markus Hilgert: Sehr gerne!